Begrenzungen des Flugverkehrs: Eine Analyse des Falls Schiphol
Veröffentlicht: 19. September 2024
Chronologie des Widerstands
Im April 2023 kündigte der Flughafen Schiphol Pläne an, Nachtflüge und Privatjets ab 2026 zu verbieten.
Stickstoff – der erste Grund für eine Obergrenze für Schiphol-Flüge
Im Jahr 2019 forderte die Nichtregierungsorganisation Mobilisation for the Environment (MOB), die Grenzwerte für Schiphols Stickstoffemissionen strikt durchzusetzen. Die Emissionen seien illegal und nie offiziell genehmigt worden, und das mitten in einer Stickstoffkrise. Stickstoff stammt aus Tierdünger und Stickoxiden, die von den Motoren von Kraftfahrzeugen, Flugzeugen und der Industrie ausgestoßen werden, was negative Auswirkungen auf die Qualität von Boden, Wasser, Luft und Natur hat. Die für Stickstofffragen zuständige Ministerin musste im Jahr 2020 zugeben, dass es für die Ausnahmeregelung für Schiphol keine solide Rechtsgrundlage gab und in der Tat eine Genehmigung erforderlich war.
Später musste sie zugeben, dass dies auch für die anderen Flughäfen zutraf, und im September 2023 erteilte sie eine Naturgenehmigung für Schiphol für 500.000 Flüge, was Raum für Wachstum bedeutet, trotz Empfehlungen ihrer eigenen Mitarbeiter, dies nicht zu tun, da es vor Gericht schwer zu verteidigen wäre.
Die Entscheidung der Ministerin löste eine Kontroverse aus, da sie weniger großzügig war, wenn es darum ging, die Stickstoffemissionen von Landwirten zu genehmigen. Im Jahr 2023 kündigte die MOB an, rechtliche Schritte einzuleiten, und reichte Berufung ein. Die Ministerin muss nun das Gericht davon überzeugen, dass die Genehmigung eine rechtsgültige Entscheidung war.
Regierung plant Lärmreduzierung durch Begrenzung des Flugverkehrs
- Verringerung des Fluglärms an der Quelle (z. B. weniger laute Flugzeuge)
- Flächennutzungsplanung und -verwaltung (z. B. Isolierung von Häusern oder Umsiedlung von Anwohnern)
- Betriebliche Verfahren zur Lärmbekämpfung (z. B. andere Landerouten)
- Betriebsbeschränkungen für Flüge
Diese Verordnung ist 2016 in Kraft getreten und sieht vor, dass alle Beteiligten, darunter auch Fluggesellschaften, Einspruch gegen eine Maßnahme erheben können. In diesem Rahmen muss auch deren „Verhältnismäßigkeit“ zur Erreichung der angestrebten Lärmreduzierung bewertet werden. Die Verordnung betrifft ausschließlich Lärmbelastung; Vorteile für Klima, Natur oder Gesundheit werden bei der Bewertung der „Verhältnismäßigkeit“ der Maßnahme nicht berücksichtigt. Betriebsbeschränkungen, wie z. B. eine Obergrenze für Flüge, müssen schriftlich bei der Europäischen Kommission angekündigt werden, wie in diesem Notifizierungsdokument.
Urteil zur Lärmbelastung
In einem Urteil vom März 2024 entschied das Haager Gericht über die Klage einer kleinen Organisation namens Right to Protection against Flight Nuisance (RBV). Gegenstand des Verfahrens war die Frage, ob der Staat rechtswidrig handelt, wenn er eine unverhältnismäßig große Zahl von Bürger*innen der Lärmbelästigung durch den Flugverkehr von und nach Schiphol aussetzt und dadurch auch ihren Schlaf beeinträchtigt. Die rechtliche Frage ist, ob das Verhalten des Staates gegen Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstößt, der das Recht auf Privatsphäre, einschließlich der Wohnung, schützt. Das Bezirksgericht Den Haag entschied, dass der Staat in der Tat rechtswidrig gehandelt habe: zum einen wurde der Flughafen fast anderthalb Jahrzehnte lang unter einer grundsätzlich rechtswidrigen Luftverkehrsregelung betrieben, und zum anderen wurde diese frühere Regelung entwickelt, ohne dass ein gerechter Ausgleich zwischen den Interessen des Luftverkehrssektors und den Interessen der Bevölkerung hergestellt wurde. Das Gericht schloss, dass der Staat seinen Bürgern keinen angemessenen Rechtsschutz bot, wie es Artikel 13 der EMRK verlangt.
Das Bezirksgericht wies den Staat an, innerhalb von zwölf Kalendermonaten nach Zustellung des Urteils
- a. die geltenden Gesetze und Vorschriften durchzusetzen und
- b. einen praktischen und wirksamen Rechtsschutz zu schaffen, der allen zugänglich ist, die von Lärmbelästigung und beeinträchtigtem Schlaf erheblich betroffen sind – auch denjenigen, die außerhalb der derzeit festgelegten Lärmkonturen wohnen -, und bei dem auch die Interessen von Individuen hinreichend berücksichtigt werden.
Frühere Untersuchungen, die das niederländische Verkehrsministerium in Auftrag gegeben hatte, ergaben, dass die Einhaltung der gesetzlichen Lärmgrenzwerte effektiv eine Obergrenze von 400.000 bis 420.000 Flügen erfordern würde. In seinem Urteil entschied das Gericht, dass der ausgewogene Ansatz nicht angewendet werden müsse, da die EU-Verordnung die nationalen Gesetze und die bis 2016 bereits in Kraft getretene Politik respektiere. Die Luftverkehrsordnung 2008 (LVB 2008) war zu diesem Zeitpunkt bereits in Kraft. Eine Entscheidung zur Durchsetzung der LVB 2008 würde daher keine Einschränkung des Flugbetriebs darstellen, bei der der ausgewogene Ansatz zur Anwendung kommen müsste. Wie bereits erwähnt, entschied der Oberste Gerichtshof jedoch im Juli 2024, dass die europäische Verordnung, die den ausgewogenen Ansatz enthält, in diesem Fall durchaus anzuwenden sei. Da diese beiden Urteile somit im Widerspruch zueinander stehen, hat der High Court nun das weitere Verfahren an den Haager Gerichtshof verwiesen.
Politischer Kontext in den Niederlanden
Bis 2023 waren die politischen Parteien, die eine niedrigere Obergrenze für Flüge befürworten, im Parlament stets in der Minderheit. In den letzten zwei Jahrzehnten wurde die Regierung von Mitte-Rechts-Parteien dominiert, die die Interessen von Unternehmen wie KLM vertreten und die Kapazität von Flughäfen immer weiter erhöhten.
Die oben erwähnten Gerichtsverfahren zur Belastung durch Lärm und Stickstoff waren schon seit Jahren im Gange, und Experten wussten, dass sich die derzeitige Situation vor Gericht wahrscheinlich nicht aufrechterhalten lassen würde. Ein Antrag auf Erteilung einer Genehmigung für einen neuen Flughafen – Lelystad – war kürzlich vom Parlament abgelehnt worden, da er auf unrealistischen Annahmen bezüglich Lärmbelästigung und Emissionen beruhte. Es wurde immer deutlicher, dass die Regierung bereit war, illegale Schritte für das Wachstum des Luftfahrtsektors zu unternehmen. Dies traf vor allem dann auf Kritik, wenn Anwohner massiven Lärm ertragen oder Landwirte ihre Betriebe wegen zu hoher Stickstoffemissionen schließen mussten. Die grüne Partei und die neue Partei der Landwirte waren oft zerstritten, aber ab 2023 gingen sie gemeinsam mit Protestgruppen und lokalen Regierungen voran und lehnten die Genehmigung für einen neuen Flughafen in Lelystad ab.
Die Strategie der Regierung, den Luftverkehr immer weiter auszubauen, stieß in der Bevölkerung immer weniger auf Unterstützung, und dazu trugen diverse Skandale noch bei. In einer Massenklage wurde der unverantwortliche Umgang des Staates mit der „ewigen Chemikalie“ PFAS aufgedeckt: bei einem Zwischenfall an einem Flughafen war es zu einer PFAS-Kontamination gekommen, zum Teil auch deswegen, weil KLM die Sicherheitsvorschriften nicht eingehalten hatte. Während die Fluggesellschaften, die den Flughafen Schiphol nutzen, von günstigen Tarifen profitieren, lösten die schlechten Arbeitsbedingungen der Flughafenmitarbeiter einen Skandal aus. Ein zunehmendes Problem stellen auch krebserregende, besonders besorgniserregende Stoffe (SHVC) dar, die immer noch mit Hilfe von Modellen berechnet anstatt vor Ort gemessen zu werden. Dies lässt das Ausmaß der Schadstoffbelastung, der Flughafenmitarbeiter*innen und Anwohner*innen ausgesetzt sind, möglicherweise geringer erscheinen, als es ist.
Der Nettonutzen des Luftverkehrs für die Gesellschaft ist häufig Gegenstand politischer Debatten. Amsterdam hat sich als Hauptsitz für mehrere große Unternehmen etabliert, was zum Teil auf seinen gut angebundenen Flughafen zurückzuführen ist, hat aber auch ein Problem mit Übertourismus. Wie in Barcelona oder Venedig wird das Stadtzentrum von Touristenmassen überlaufen, was mit der Zunahme an Flügen in klarem Zusammenhang steht. Die Stadt Amsterdam – Anteilseigner des Flughafens Schiphol – befürwortet nun eine weitere Beschränkung des Flugverkehrs auf 400.000 Flüge. Die Tatsache, dass eine Verringerung der Flughafenkapazität der einzige Weg aus diesem rechtlichen Chaos war, hat weitere politische Parteien davon überzeugt, ihren Kurs zu ändern. Sogar Mitte-Rechts-Parteien befürworten jetzt, die Maximalkapazität des Flughafens zu begrenzen.
Unterstützt wurde diese Linie auch von Ruud Sondag, dem früheren Flughafenchef, der sich entschlossen für die Anwohner und das Klima einsetzte. Er legte einen ehrgeizigen, aber letztlich abgelehnten Plan für ein Nachtflugverbot vor und gab Untersuchungen in Auftrag, wie der Flughafen Schiphol seine CO2-Emissionen innerhalb der Grenzen des Pariser Abkommens halten könnte.
Auch die Pandemie spielte politisch eine Rolle. Sie zeigte nicht nur, dass Online-Meetings viele Geschäftsreisen ersetzen können, sondern machte auch deutlich, dass KLM immer schon nur mit öffentlichen Geldspritzen überleben konnte. Im Detail dokumentiert wurde dies in einem 2022 erschienenen, Bestseller, der zum miserablen Ruf von KLM weiter beitrug. Darüber hinaus beschloss KLM, die Bedingungen, an welche die massive finanzielle Unterstützung durch den Staat während der Pandemie gebunden war, einfach nicht zu erfüllen. Dies führte zu einem angespannten Verhältnis zwischen KLM und dem Verkehrsminister.
Open Information
Ökosystem der Akteure
Ein wichtiger Faktor für den Erfolg der Maßnahmen, mit denen die Luftfahrtindustrie auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden sollte, war das vielfältige zivilgesellschaftliche Ökosystem und die Zusammenarbeit von verschiedenen Akteuren. Anwohnergruppen kooperierten von Anfang an mit Umwelt-NGOs, und beide Seiten brachten ihren Aktivismus, ihre persönlichen Erfahrungen und ihr Fachwissen ein. Viele Demonstrationen, Berechnungen und Gerichtsverfahren wurden in Zusammenarbeit durchgeführt.
Erfolgreiche Anwohnergruppen nahmen kein Geld von der (lokalen) Regierung für ihre Aktivitäten an – selbst wenn es ihnen angeboten wurde – und bewahrten sich damit den Freiraum, so zu sprechen und zu handeln, wie sie es für nötig hielten.
Einige Expert*innen wurden zu Vollzeitaktivist*innen, die sich gegen die aktuelle Luftverkehrspolitik einsetzen, darunter die Gründer von Schipholwatch. Die kleine NGO sammelt Daten, veröffentlicht täglich Nachrichten, vernetzt Anwohnergruppen, betreibt politische Lobbyarbeit und verwendet die Spenden ihrer zahlreichen Leserschaft, um Anwälte für Gerichtsverfahren zu bezahlen. Die verschiedenen Organisationen, die sich mit dem Flugverkehr auseinandersetzen, stehen in ständigem Kontakt und besprechen ihre Strategien mit anderen, die die gleichen Ziele verfolgen.
Lessons Learned – Was hat im Kampf um die Schließung von Schiphol funktioniert?
- Alle Probleme, die mit dem übermäßigen Flugverkehr in Schiphol in Verbindung stehen, wurden gleichzeitig bekämpft, indem von allen Seiten Druck aufgebaut wurde: Stickstoff, Lärm, PFAS, CO2- und Nicht-CO2-Auswirkungen des Luftverkehrs auf das Klima, Arbeitnehmerrechte, besonders besorgniserregende Stoffe (SVHC), Probleme mit dem Tourismus. Wenn man über weniger Kapazitäten verfügt, ist es natürlich sinnvoll, sich auf einzelne Themen zu konzentrieren. Es kann jedoch auch eine gute Strategie sein, verschiedene Akteure mit unterschiedlichen Schwerpunkten zu haben, die sich an verschiedene Gruppen wenden – solange das Hauptziel ähnlich ist.
- Die Hauptforderung, die eine Antwort auf alle Probleme im Zusammenhang mit Schiphol gab, waren weniger Flüge. Während der Luftfahrtsektor immer wieder betont, dass ein Umsteigeknotenpunkt für die Wirtschaft von entscheidender Bedeutung ist, beharren die Kritiker des Sektors darauf, dass die einzige Lösung für die derzeitigen Probleme darin besteht, den Luftverkehr zu reduzieren. Dadurch wird vermieden, dass die verschiedenen Gruppen gegeneinander ausgespielt werden, und es bringt weitere Akteure an Bord.
- Das Gleiche gilt für die Vielfalt der angewandten Taktiken und Strategien, vom Pflanzen von Bäumen über zivilen Ungehorsam bis hin zu Gerichtsverfahren. Der Schlüssel zum Erfolg liegt darin, Unterschiede zu respektieren, und zu akzeptieren, dass jeder Akteur seine eigenen Stärken einbringt und seine eigene Rolle spielt. Die Zusammenarbeit zwischen allen Arten von Akteuren ist wichtig – mit einer Ausnahme:
- Die Nichtkooperation mit der Industrie war zentral. Oft lädt die Branche zusammen mit Regierungen die Anwohner zu Gesprächen ein, ohne jedoch wirklich offen für die Forderungen der Zivilgesellschaft zu sein. Die Industrie kann so behaupten, sie habe die Anwohner „einbezogen“, was rechtlich und politisch für sie vorteilhaft ist. Darüber hinaus ist es die Regierung, die für die Festlegung der Rahmenbedingungen für den Luftverkehr verantwortlich sein sollte und an die sich Organisationen dementsprechend primär wenden sollten. Nichtkooperation ist eine Reaktion auf die problematische Tatsache, dass der Staat diese Macht oft an die Industrie abgibt und sich darauf verlässt, dass diese den Rahmen vorgibt. In einem Fall hat eine Anwohnerorganisation das Angebot zur Teilnahme zwar angenommen, aber mit dem Ziel, aus der Sitzung verwiesen zu werden und damit einen Skandal in den Medien auszulösen. Dies machte deutlich, dass die angebliche Einbeziehung der Zivilgesellschaft gescheitert war und baute so weiter politischen Druck auf.
- Umfassende Recherchen durch eine Vielzahl von Akteuren waren wichtig. Es ist eine Sache, Anwälte zu beauftragen und Kampagnen zu organisieren, aber Datensammlung ist der erste Schritt. Der Open Information Act war ein nützliches Instrument, um Einblick in Regierungsdokumente zu erhalten (siehe Kasten 2). Entscheidend ist, glaubwürdig zu bleiben, genaue Informationen zu liefern, Fehler zuzugeben und nicht zu übertreiben. In Schiphol wurden die rechtlichen Möglichkeiten genutzt, wo immer sie sich boten.