Begrenzungen des Flugverkehrs: Eine Analyse des Falls Schiphol

Veröffentlicht: 19. September 2024

Der Flughafen Amsterdam Schiphol ist mit 62 Millionen Fluggästen im Jahr 2023 der drittgrößte Flughafen in Europa nach London Heathrow und Paris. In den letzten Jahrzehnten hat die Größe des Flughafens deutlich das überschritten, was für die niederländische Nachfrage nötig wäre. Die wichtigste nationale Fluggesellschaft, KLM, hat Schiphol zu einem Drehkreuz für Umsteigepassagiere gemacht, um mit den nationalen Fluggesellschaften aus größeren Ländern konkurrieren zu können. Diese Umsteigepassagiere tragen kaum zur niederländischen Wirtschaft bei, sind aber verantwortlich für einen großen Teil der Auswirkungen, die der Flughafen auf das Klima, die Artenvielfalt und die Gesundheit der Anwohner*innen hat. Die niederländische Regierung hat das Wachstum dieses Drehkreuzsystems jahrzehntelang unterstützt und dabei sogar gegen einige ihrer eigenen Vorschriften gegen übermäßige Lärm- und Stickstoffemissionen verstoßen. Als Reaktion darauf hat sich eine Reihe von Umweltorganisationen und Anwohnerverbänden organisiert, die nun ihre Rechte gelten machen, um die Regierung zur Verantwortung zu ziehen. Während eine Vielzahl von Strategien, von Massenprotesten bis hin zu Kampagnen, entscheidend war, um politischen Druck aufzubauen, spielte die Rechtsprechung eine wichtige Rolle, um die Flugbewegungen des Flughafens zu begrenzen. Und der Kampf ist noch nicht vorbei. Das Folgende präsentiert eine nicht erschöpfende Chronologie von Gesetzen, Verbrechen und Widerstand sowie einige Versuche, zu analysieren, was andere daraus lernen können.

Chronologie des Widerstands

1970er: Die ersten Umwelt-NGOs beginnen, gegen neue Flughafenerweiterungen in den Niederlanden zu protestieren. Um eine neue Landebahn zu verhindern, pflanzt Milieudefensie, der niederländische Zweig von Friends of the Earth International, auf dem geplanten Gelände einen Wald an.
1980: Die ersten Anwohnerkollektive beginnen, gegen die zunehmende Aktivität an Flughäfen und ihre Auswirkungen zu protestieren. 1992 verabschiedet die Europäische Union ihre Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie für den Schutz wild lebender Vögel, die den derzeitigen Rahmen für den Schutz der Artenvielfalt bildet. Dadurch wird die Natur in der Nähe von Flughäfen vor übermäßiger Stickstoffbelastung geschützt.
Mitte der 1990er Jahre: Die Erweiterung des Flughafens Schiphol führt zu zahlreichen Protesten. Die Regierung behauptet, dass sich trotz der Zunahme an Flügen der Lärm und die Luftqualität nicht verschlechtern würden. Im selben Jahrzehnt gründet sich die Mobilisierung für die Umwelt (MOB), eine kleine niederländische Umwelt-NGO, um in Fällen, in denen sich eine Regierung nicht an das Umweltrecht hält, rechtliche Schritte einzuleiten.
2002: Die niederländische Regierung stimmt für die Ratifizierung des Kyoto-Protokolls und später, im Jahr 2015, für das Pariser Abkommen und verpflichtet sich damit zur Begrenzung der Treibhausgasemissionen.
2007: Die neue Umwelt-NGO Urgenda (urgent + agenda) wird gegründet. 2013 beginnt sie mit den Vorbereitungen für ein Gerichtsverfahren gegen die niederländische Regierung, weil diese ihren eigenen Verpflichtungen zur Begrenzung des Klimawandels nicht nachkommt.
Etwa 2008: Die Regierung erarbeitet eine neue Strategie für den Luftverkehr, die die Zahl der Flüge wieder einmal ohne triftige Gründe erhöhen soll. Anwohnergruppen werden um ihre Meinung gebeten, dürfen aber keinen Einfluss auf die Zahlen nehmen. Durch die Einbeziehung der Anwohner*innen soll der Eindruck erweckt werden, dass die Strategie in der Bevölkerung breite Unterstützung findet. Etwa zur gleichen Zeit beginnen einige Anwohner*innen, ihre Strategie zu ändern und offiziell zu fordern, dass die geforderten Lärmgrenzwerte jedes Jahr eingehalten werden. Gewährt wurde dies nie.
2015: In der bahnbrechenden Rechtssache Urgenda entscheidet das Bezirksgericht Den Haag, dass die Treibhausgasemissionen bis Ende 2020 um mindestens 25 % gegenüber dem Stand von 1990 gesenkt werden müssen. Der niederländische Staat legt Berufung ein, aber das Berufungsgericht bestätigt das Urteil 2018. Der niederländische Staat legt erneut Kassationsbeschwerde ein, doch der Oberste Gerichtshof wiest die Beschwerde 2019 zurück. Zum ersten Mal ordnet ein Gericht auf der Grundlage der Menschenrechte an, dass ein Staat mehr gegen die Bedrohung durch den Klimawandel unternehmen muss. Urgenda gründet das Climate Litigation Network, um Rechtsfälle in anderen Ländern im Zusammenhang mit dem Klimawandel zu unterstützen. Seitdem waren viele Fälle erfolgreich, aber Gerichtsverfahren im Luftverkehr waren bisher auf irreführende Werbung von Fluggesellschaften beschränkt und wurden noch nicht auf die öffentliche Luftverkehrspolitik ausgeweitet. Seit 2015 werden die gesetzlichen Lärmgrenzwerte am Flughafen Schiphol offiziell überschritten. Die Aufsichtsbehörden haben sich dafür entschieden, die Vorschriften nicht durchzusetzen, was zu den vom Flughafen geschaffenen rechtlichen Problemen weiter beiträgt. In der Zwischenzeit haben die Proteste gegen das Wachstum des Luftverkehrs an Boden gewonnen, gemeinsam organisiert von Umwelt-NGOs, lokalen Organisationen von Flughafenanwohner*innen und politischen Parteien.

2018: Aktivisten kleiden sich in Rot, um ein rotes Signal gegen das Wachstum des Luftverkehrs zu setzen.
2019 bis heute: Rechtsmittel gegen Stickstoffbelastung (siehe unten).
2022 bis heute: Regierung und Gericht verhandeln über eine Reduzierung der Obergrenze für Flüge, was einen Präzedenzfall für weitere Flughäfen schaffen könnte (siehe unten).
2022: Im November legten Aktivisten Privatjets am Flughafen für mehr als 6 Stunden lahm.
Im April 2023 kündigte der Flughafen Schiphol Pläne an, Nachtflüge und Privatjets ab 2026 zu verbieten.

Stickstoff – der erste Grund für eine Obergrenze für Schiphol-Flüge

Im Jahr 2019 forderte die Nichtregierungsorganisation Mobilisation for the Environment (MOB), die Grenzwerte für Schiphols Stickstoffemissionen strikt durchzusetzen. Die Emissionen seien illegal und nie offiziell genehmigt worden, und das mitten in einer Stickstoffkrise. Stickstoff stammt aus Tierdünger und Stickoxiden, die von den Motoren von Kraftfahrzeugen, Flugzeugen und der Industrie ausgestoßen werden, was negative Auswirkungen auf die Qualität von Boden, Wasser, Luft und Natur hat. Die für Stickstofffragen zuständige Ministerin musste im Jahr 2020 zugeben, dass es für die Ausnahmeregelung für Schiphol keine solide Rechtsgrundlage gab und in der Tat eine Genehmigung erforderlich war.

Später musste sie zugeben, dass dies auch für die anderen Flughäfen zutraf, und im September 2023 erteilte sie eine Naturgenehmigung für Schiphol für 500.000 Flüge, was Raum für Wachstum bedeutet, trotz Empfehlungen ihrer eigenen Mitarbeiter, dies nicht zu tun, da es vor Gericht schwer zu verteidigen wäre.

Die Entscheidung der Ministerin löste eine Kontroverse aus, da sie weniger großzügig war, wenn es darum ging, die Stickstoffemissionen von Landwirten zu genehmigen. Im Jahr 2023 kündigte die MOB an, rechtliche Schritte einzuleiten, und reichte Berufung ein. Die Ministerin muss nun das Gericht davon überzeugen, dass die Genehmigung eine rechtsgültige Entscheidung war.

Regierung plant Lärmreduzierung durch Begrenzung des Flugverkehrs

Im Juni 2022 wurden viele Niederländer*innen von der Ankündigung des Verkehrsministers Mark Harbers überrascht, dass die derzeit zulässige Höchstzahl an Flügen bis Ende 2023 von 500.000 auf 460.000 und ein Jahr später auf 440.000 gesenkt werden soll, anstatt wie zuvor angekündigt auf 540.000 erhöht zu werden. Die neue Obergrenze basiere nicht auf rechtlichen Regelungen bezüglich Lärm und Umwelt, sondern sei ein Kompromiss und ein erster Schritt. Der Minister räumte ein, dass der Flughafen die Lärm- und Stickstoffvorschriften nicht einhalte und dass drastische Maßnahmen erforderlich seien, um die Vorschriften zu erfüllen. Verschiedene zivilgesellschaftliche Gruppen bereiteten Gerichtsverfahren vor, die, wie der Minister informiert wurde, gute Chancen auf Erfolg hatten. Die Medien sprachen von einem „juristischen Sumpf“. Die geplante Obergrenze wurde nach und nach bis September 2024 wieder auf maximal 475.000 – 485.000 Flüge pro Jahr erhöht. Diese Regelung soll nun Ende 2025 in Kraft treten. Die neue Höchstzahl wird damit begründet, dass andere Maßnahmen zur Lärmreduzierung sich als wirksamer herausstellten als bisher angenommen, sodass weniger Notwendigkeit bestehe, die Zahl der Flüge zu begrenzen. Für lärmbedingte Flugbeschränkungen hat die Europäische Kommission ein Verfahren mit der Bezeichnung „Ausgewogener Ansatz“ (Balanced Approach) entwickelt, bei dem alle wichtigen Interessengruppen in einem langwierigen Prozess einbezogen werden müssen und Flugbeschränkungen nur als „letztes Mittel“ in Frage kommen. 20 Parteien, zum größten Teil Fluggesellschaften, haben die Pläne der niederländischen Regierung rechtlich angefochten. Sie betrachten bindende Obergrenzen für Flüge als unverhältnismäßig und vertreten die Auffassung, dass das Verfahren des ausgewogenen Ansatzes nicht eingehalten worden sei. Flugbeschränkungen seien eingeführt worden, ohne alternative Maßnahmen zur Verringerung der Lärmbelastung ausreichend zu prüfen und ohne die Betroffenen zu konsultieren. Ein Gericht entschied in erster Instanz zugunsten der Fluggesellschaften. Die Regierung legte jedoch gegen dieses Urteil Berufung ein, mit der Begründung, dass die derzeitige Zahl von 500.000 bereits rechtswidrig sei und die Rückführung auf 452.500 lediglich ein Schritt sei, um sie wieder legal zu machen. Das Berufungsgericht stimmte dem zu und hob die Entscheidung der unteren Instanz im März 2024 auf. Der Fall war so komplex und heikel, dass 29 Anwälte beteiligt waren – was ihn ins Guiness-Buch der Rekorde brachte. Rund um den Rechtsfall wurde politischer Druck ausgeübt. Die US-Regierung warnte, dass wenn amerikanische Fluggesellschaften weniger Zeitfenster in Schiphol erhalten sollten, im Gegenzug auch die Möglichkeiten von KPL in den USA beschnitten würden. Die einseitige Entscheidung der niederländischen Regierung verstoße gegen den Open Skies Treaty zwischen den USA und der EU. Die Europäische Kommission wiederum warnte, dass das Verfahren des ausgewogenen Ansatzes korrekt angewendet werden müsse. Diese Warnung und das Machtspiel der USA führten dazu, dass der Minister die Pläne aufgab. Die Warnung der Europäischen Kommission wurde später vom Obersten Gerichtshof bestätigt. Ein neuer Plan der Regierung zur Reduzierung der Flugzahlen auf 460.000 bis 470.000 wurde der Europäischen Kommission vorgelegt und muss das langwierige Verfahren des „ausgewogenen Ansatzes“ durchlaufen. Dem neuen Plan gingen zahlreiche Gespräche zwischen dem niederländischen Ministerium und der Europäischen Kommission voraus, bei denen letztere darauf bestand, dass zunächst spezifische Lärmschutzmaßnahmen ergriffen werden müssten und eine Verringerung der Flugzahlen nur als letztes Mittel in Betracht käme. Die Maßnahmen stünden in keinem Verhältnis zum Ziel der Lärmreduzierung. Viele zivilgesellschaftliche Gruppen, darunter Stay Grounded, haben ihre Besorgnis über diese verwässerten Pläne geäußert.
Der ausgewogene Ansatz: Das Verfahren des ausgewogenen Ansatzes ist eine verbindliche Methode, die Mitgliedstaaten anwenden müssen, wenn sie Maßnahmen zur Lärmreduzierung an einem Flughafen ergreifen wollen. Das Verfahren ist in der EU-Verordnung Nr. 598/2014 beschrieben und schützt Fluggesellschaften und Flughäfen vor Einschränkungen. Flugbeschränkungen können nur unter strengen Bedingungen durchgesetzt werden. Der Ansatz wurde gemeinsam mit der Luftfahrtindustrie entwickelt, um Betriebseinschränkungen so schwierig wie rechtlich möglich zu gestalten. Die Verordnung besagt: „Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass bei lärmbedingten Maßnahmen die folgende Kombination verfügbarer Maßnahmen in Betracht gezogen wird, um die kosteneffizienteste Maßnahme oder Maßnahmenkombination zu ermitteln“. Die vier Säulen des ausgewogenen Ansatzes müssen der Reihe nach angegangen werden, wobei die letzte nur dann zulässig ist, wenn alle anderen Maßnahmen berücksichtigt wurden:

  1. Verringerung des Fluglärms an der Quelle (z. B. weniger laute Flugzeuge)
  2. Flächennutzungsplanung und -verwaltung (z. B. Isolierung von Häusern oder Umsiedlung von Anwohnern)
  3. Betriebliche Verfahren zur Lärmbekämpfung (z. B. andere Landerouten)
  4. Betriebsbeschränkungen für Flüge

Diese Verordnung ist 2016 in Kraft getreten und sieht vor, dass alle Beteiligten, darunter auch Fluggesellschaften, Einspruch gegen eine Maßnahme erheben können. In diesem Rahmen muss auch deren „Verhältnismäßigkeit“ zur Erreichung der angestrebten Lärmreduzierung bewertet werden. Die Verordnung betrifft ausschließlich Lärmbelastung; Vorteile für Klima, Natur oder Gesundheit werden bei der Bewertung der „Verhältnismäßigkeit“ der Maßnahme nicht berücksichtigt. Betriebsbeschränkungen, wie z. B. eine Obergrenze für Flüge, müssen schriftlich bei der Europäischen Kommission angekündigt werden, wie in diesem Notifizierungsdokument.

Urteil zur Lärmbelastung

In einem Urteil vom März 2024 entschied das Haager Gericht über die Klage einer kleinen Organisation namens Right to Protection against Flight Nuisance (RBV). Gegenstand des Verfahrens war die Frage, ob der Staat rechtswidrig handelt, wenn er eine unverhältnismäßig große Zahl von Bürger*innen der Lärmbelästigung durch den Flugverkehr von und nach Schiphol aussetzt und dadurch auch ihren Schlaf beeinträchtigt. Die rechtliche Frage ist, ob das Verhalten des Staates gegen Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstößt, der das Recht auf Privatsphäre, einschließlich der Wohnung, schützt. Das Bezirksgericht Den Haag entschied, dass der Staat in der Tat rechtswidrig gehandelt habe: zum einen wurde der Flughafen fast anderthalb Jahrzehnte lang unter einer grundsätzlich rechtswidrigen Luftverkehrsregelung betrieben, und zum anderen wurde diese frühere Regelung entwickelt, ohne dass ein gerechter Ausgleich zwischen den Interessen des Luftverkehrssektors und den Interessen der Bevölkerung hergestellt wurde. Das Gericht schloss, dass der Staat seinen Bürgern keinen angemessenen Rechtsschutz bot, wie es Artikel 13 der EMRK verlangt.

Das Bezirksgericht wies den Staat an, innerhalb von zwölf Kalendermonaten nach Zustellung des Urteils

  1. a. die geltenden Gesetze und Vorschriften durchzusetzen und
  2. b. einen praktischen und wirksamen Rechtsschutz zu schaffen, der allen zugänglich ist, die von Lärmbelästigung und beeinträchtigtem Schlaf erheblich betroffen sind – auch denjenigen, die außerhalb der derzeit festgelegten Lärmkonturen wohnen -, und bei dem auch die Interessen von Individuen hinreichend berücksichtigt werden.

Frühere Untersuchungen, die das niederländische Verkehrsministerium in Auftrag gegeben hatte, ergaben, dass die Einhaltung der gesetzlichen Lärmgrenzwerte effektiv eine Obergrenze von 400.000 bis 420.000 Flügen erfordern würde. In seinem Urteil entschied das Gericht, dass der ausgewogene Ansatz nicht angewendet werden müsse, da die EU-Verordnung die nationalen Gesetze und die bis 2016 bereits in Kraft getretene Politik respektiere. Die Luftverkehrsordnung 2008 (LVB 2008) war zu diesem Zeitpunkt bereits in Kraft. Eine Entscheidung zur Durchsetzung der LVB 2008 würde daher keine Einschränkung des Flugbetriebs darstellen, bei der der ausgewogene Ansatz zur Anwendung kommen müsste. Wie bereits erwähnt, entschied der Oberste Gerichtshof jedoch im Juli 2024, dass die europäische Verordnung, die den ausgewogenen Ansatz enthält, in diesem Fall durchaus anzuwenden sei. Da diese beiden Urteile somit im Widerspruch zueinander stehen, hat der High Court nun das weitere Verfahren an den Haager Gerichtshof verwiesen.

Politischer Kontext in den Niederlanden

Bis 2023 waren die politischen Parteien, die eine niedrigere Obergrenze für Flüge befürworten, im Parlament stets in der Minderheit. In den letzten zwei Jahrzehnten wurde die Regierung von Mitte-Rechts-Parteien dominiert, die die Interessen von Unternehmen wie KLM vertreten und die Kapazität von Flughäfen immer weiter erhöhten.

Die oben erwähnten Gerichtsverfahren zur Belastung durch Lärm und Stickstoff waren schon seit Jahren im Gange, und Experten wussten, dass sich die derzeitige Situation vor Gericht wahrscheinlich nicht aufrechterhalten lassen würde. Ein Antrag auf Erteilung einer Genehmigung für einen neuen Flughafen – Lelystad – war kürzlich vom Parlament abgelehnt worden, da er auf unrealistischen Annahmen bezüglich Lärmbelästigung und Emissionen beruhte. Es wurde immer deutlicher, dass die Regierung bereit war, illegale Schritte für das Wachstum des Luftfahrtsektors zu unternehmen. Dies traf vor allem dann auf Kritik, wenn Anwohner massiven Lärm ertragen oder Landwirte ihre Betriebe wegen zu hoher Stickstoffemissionen schließen mussten. Die grüne Partei und die neue Partei der Landwirte waren oft zerstritten, aber ab 2023 gingen sie gemeinsam mit Protestgruppen und lokalen Regierungen voran und lehnten die Genehmigung für einen neuen Flughafen in Lelystad ab.

Die Strategie der Regierung, den Luftverkehr immer weiter auszubauen, stieß in der Bevölkerung immer weniger auf Unterstützung, und dazu trugen diverse Skandale noch bei. In einer Massenklage wurde der unverantwortliche Umgang des Staates mit der „ewigen Chemikalie“ PFAS aufgedeckt: bei einem Zwischenfall an einem Flughafen war es zu einer PFAS-Kontamination gekommen, zum Teil auch deswegen, weil KLM die Sicherheitsvorschriften nicht eingehalten hatte. Während die Fluggesellschaften, die den Flughafen Schiphol nutzen, von günstigen Tarifen profitieren, lösten die schlechten Arbeitsbedingungen der Flughafenmitarbeiter einen Skandal aus. Ein zunehmendes Problem stellen auch krebserregende, besonders besorgniserregende Stoffe (SHVC) dar, die immer noch mit Hilfe von Modellen berechnet anstatt vor Ort gemessen zu werden. Dies lässt das Ausmaß der Schadstoffbelastung, der Flughafenmitarbeiter*innen und Anwohner*innen ausgesetzt sind, möglicherweise geringer erscheinen, als es ist.

Der Nettonutzen des Luftverkehrs für die Gesellschaft ist häufig Gegenstand politischer Debatten. Amsterdam hat sich als Hauptsitz für mehrere große Unternehmen etabliert, was zum Teil auf seinen gut angebundenen Flughafen zurückzuführen ist, hat aber auch ein Problem mit Übertourismus. Wie in Barcelona oder Venedig wird das Stadtzentrum von Touristenmassen überlaufen, was mit der Zunahme an Flügen in klarem Zusammenhang steht. Die Stadt Amsterdam – Anteilseigner des Flughafens Schiphol – befürwortet nun eine weitere Beschränkung des Flugverkehrs auf 400.000 Flüge. Die Tatsache, dass eine Verringerung der Flughafenkapazität der einzige Weg aus diesem rechtlichen Chaos war, hat weitere politische Parteien davon überzeugt, ihren Kurs zu ändern. Sogar Mitte-Rechts-Parteien befürworten jetzt, die Maximalkapazität des Flughafens zu begrenzen.

Unterstützt wurde diese Linie auch von Ruud Sondag, dem früheren Flughafenchef, der sich entschlossen für die Anwohner und das Klima einsetzte. Er legte einen ehrgeizigen, aber letztlich abgelehnten Plan für ein Nachtflugverbot vor und gab Untersuchungen in Auftrag, wie der Flughafen Schiphol seine CO2-Emissionen innerhalb der Grenzen des Pariser Abkommens halten könnte.

Auch die Pandemie spielte politisch eine Rolle. Sie zeigte nicht nur, dass Online-Meetings viele Geschäftsreisen ersetzen können, sondern machte auch deutlich, dass KLM immer schon nur mit öffentlichen Geldspritzen überleben konnte. Im Detail dokumentiert wurde dies in einem 2022 erschienenen, Bestseller, der zum miserablen Ruf von KLM weiter beitrug. Darüber hinaus beschloss KLM, die Bedingungen, an welche die massive finanzielle Unterstützung durch den Staat während der Pandemie gebunden war, einfach nicht zu erfüllen. Dies führte zu einem angespannten Verhältnis zwischen KLM und dem Verkehrsminister.

Open Information

Um Gerichtsverfahren einzuleiten und Fehlverhalten und Doppelmoral in öffentlichen Einrichtungen aufzudecken ist der sogenannte Open Information Act ein wichtiges Instrument. Das Gesetz, das nur von Norwegen und dem Vereinigten Königreichübertroffen wird und in anderen Ländern nur in eingeschränkter Form existiert, ermöglicht es allen Bürger*innen, Zugang zu öffentlichen, wenn auch anonymisierten, Dokumenten zu erhalten. Dies gilt für amtliche und inoffizielle Dokumente wie Konzeptnotizen, interne E-Mails und Nachrichten in Messenger-Apps. Es ist kein Zufall, dass der niederländische Ministerpräsident bis vor kurzem ein altes Nokia-Handy mit begrenztem SMS-Speicherplatz benutzte: es war die einzige verbliebene Ausrede, um sensible Nachrichten zu löschen, sehr zum Unmut der Bevölkerung. Niederländische Anwohnergruppen und Nichtregierungsorganisationen haben aktiv interne E-Mails von Regierungsbehörden zu Themen wie Umweltverschmutzung oder Luftverkehr angefordert. Mit der Hilfe von Institutionen, die die Regierung in den Bereichen Wirtschaft ( PBL) und Gesundheit (RIVM) beraten, konnten unabhängige Berichte über den Luftverkehr erstellt werden, etwa über die begrenzte wirtschaftliche Bedeutung von Umsteigepassagieren für die Wirtschaft und die Gesundheitsrisiken durch luftfahrtbedingte Ultrafeinestaubpartikel.

Ökosystem der Akteure

Ein wichtiger Faktor für den Erfolg der Maßnahmen, mit denen die Luftfahrtindustrie auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden sollte, war das vielfältige zivilgesellschaftliche Ökosystem und die Zusammenarbeit von verschiedenen Akteuren. Anwohnergruppen kooperierten von Anfang an mit Umwelt-NGOs, und beide Seiten brachten ihren Aktivismus, ihre persönlichen Erfahrungen und ihr Fachwissen ein. Viele Demonstrationen, Berechnungen und Gerichtsverfahren wurden in Zusammenarbeit durchgeführt.

Erfolgreiche Anwohnergruppen nahmen kein Geld von der (lokalen) Regierung für ihre Aktivitäten an – selbst wenn es ihnen angeboten wurde – und bewahrten sich damit den Freiraum, so zu sprechen und zu handeln, wie sie es für nötig hielten.

Einige Expert*innen wurden zu Vollzeitaktivist*innen, die sich gegen die aktuelle Luftverkehrspolitik einsetzen, darunter die Gründer von Schipholwatch. Die kleine NGO sammelt Daten, veröffentlicht täglich Nachrichten, vernetzt Anwohnergruppen, betreibt politische Lobbyarbeit und verwendet die Spenden ihrer zahlreichen Leserschaft, um Anwälte für Gerichtsverfahren zu bezahlen. Die verschiedenen Organisationen, die sich mit dem Flugverkehr auseinandersetzen, stehen in ständigem Kontakt und besprechen ihre Strategien mit anderen, die die gleichen Ziele verfolgen.

Lessons Learned – Was hat im Kampf um die Schließung von Schiphol funktioniert?

  • Alle Probleme, die mit dem übermäßigen Flugverkehr in Schiphol in Verbindung stehen, wurden gleichzeitig bekämpft, indem von allen Seiten Druck aufgebaut wurde: Stickstoff, Lärm, PFAS, CO2- und Nicht-CO2-Auswirkungen des Luftverkehrs auf das Klima, Arbeitnehmerrechte, besonders besorgniserregende Stoffe (SVHC), Probleme mit dem Tourismus. Wenn man über weniger Kapazitäten verfügt, ist es natürlich sinnvoll, sich auf einzelne Themen zu konzentrieren. Es kann jedoch auch eine gute Strategie sein, verschiedene Akteure mit unterschiedlichen Schwerpunkten zu haben, die sich an verschiedene Gruppen wenden – solange das Hauptziel ähnlich ist.
  • Die Hauptforderung, die eine Antwort auf alle Probleme im Zusammenhang mit Schiphol gab, waren weniger Flüge. Während der Luftfahrtsektor immer wieder betont, dass ein Umsteigeknotenpunkt für die Wirtschaft von entscheidender Bedeutung ist, beharren die Kritiker des Sektors darauf, dass die einzige Lösung für die derzeitigen Probleme darin besteht, den Luftverkehr zu reduzieren. Dadurch wird vermieden, dass die verschiedenen Gruppen gegeneinander ausgespielt werden, und es bringt weitere Akteure an Bord.
  • Das Gleiche gilt für die Vielfalt der angewandten Taktiken und Strategien, vom Pflanzen von Bäumen über zivilen Ungehorsam bis hin zu Gerichtsverfahren. Der Schlüssel zum Erfolg liegt darin, Unterschiede zu respektieren, und zu akzeptieren, dass jeder Akteur seine eigenen Stärken einbringt und seine eigene Rolle spielt. Die Zusammenarbeit zwischen allen Arten von Akteuren ist wichtig – mit einer Ausnahme:
  • Die Nichtkooperation mit der Industrie war zentral. Oft lädt die Branche zusammen mit Regierungen die Anwohner zu Gesprächen ein, ohne jedoch wirklich offen für die Forderungen der Zivilgesellschaft zu sein. Die Industrie kann so behaupten, sie habe die Anwohner „einbezogen“, was rechtlich und politisch für sie vorteilhaft ist. Darüber hinaus ist es die Regierung, die für die Festlegung der Rahmenbedingungen für den Luftverkehr verantwortlich sein sollte und an die sich Organisationen dementsprechend primär wenden sollten. Nichtkooperation ist eine Reaktion auf die problematische Tatsache, dass der Staat diese Macht oft an die Industrie abgibt und sich darauf verlässt, dass diese den Rahmen vorgibt. In einem Fall hat eine Anwohnerorganisation das Angebot zur Teilnahme zwar angenommen, aber mit dem Ziel, aus der Sitzung verwiesen zu werden und damit einen Skandal in den Medien auszulösen. Dies machte deutlich, dass die angebliche Einbeziehung der Zivilgesellschaft gescheitert war und baute so weiter politischen Druck auf.
  • Umfassende Recherchen durch eine Vielzahl von Akteuren waren wichtig. Es ist eine Sache, Anwälte zu beauftragen und Kampagnen zu organisieren, aber Datensammlung ist der erste Schritt. Der Open Information Act war ein nützliches Instrument, um Einblick in Regierungsdokumente zu erhalten (siehe Kasten 2). Entscheidend ist, glaubwürdig zu bleiben, genaue Informationen zu liefern, Fehler zuzugeben und nicht zu übertreiben. In Schiphol wurden die rechtlichen Möglichkeiten genutzt, wo immer sie sich boten.

Wie soll es weitergehen?

Die jüngsten Pläne zur Begrenzung der maximal zulässigen Kapazität von Schiphol (475.000 – 485.000 Flüge pro Jahr), die dem Verfahren des ausgewogenen Ansatzes folgen, warten nun auf eine Antwort der Europäischen Kommission. Ein weiterer Plan der niederländischen Regierung, zu dem die Antwort der Europäischen Kommission noch aussteht, ist eine CO2-Obergrenze für niederländische Flughäfen. Sie soll zwar keine strengeren Emissionsziele für den Luftverkehr schaffen, ist aber ein wichtiges Instrument zur Durchsetzung und Sicherung bestehender Ziele. Es liegt auf der Hand, dass CO2-Obergrenzen, sobald sie eingeführt und von der Europäischen Kommission genehmigt sind, ohne weiteres die Kapazitätsgrenzen von Flughäfen als Grundlage für die Erreichung neuer Emissionsziele nutzen können. Im Dezember 2023 brachten die Wahlen in den Niederlanden eine neue rechtsextreme Regierungskoalition an die Macht, die in ihrer Schiphol-Politik folgende Position vertrat: „In den kommenden Jahren sollte der Schwerpunkt auf dem Schutz der Anwohner (Lärmbelästigung) liegen, wobei die Rolle von Schiphol im internationalen Netzwerk erhalten bleiben muss. Langfristig wird weiteres Wachstum mit leiseren und saubereren Flugzeugen möglich sein.“ Diese vorsichtige Politik einer rechtsextremen Koalition zeigt, dass die erfolgreichen Gerichtsverfahren in der Vergangenheit inzwischen nicht mehr zu ignorieren sind. Sie zeigt aber auch ein blindes Vertrauen in den technischen Fortschritt, den viele andere nicht teilen. Am 19. November 2024 wird das Bezirksgericht Den Haag darüber entscheiden, ob die Genehmigung für Schiphol rechtsgültig ist, und möglicherweise eine erhebliche Reduzierung der Stickstoffemissionen aus dem Luftverkehr anordnen, was in der Praxis nur durch eine Verringerung der Zahl der Flugzeuge erreicht werden kann. Die Ironie liegt darin, dass auf EU-Ebene eine Obergrenze für Flüge auf der Basis von Lärmbelästigung nur mit Mühe durchgesetzt werden kann, während die EU-Rechtsvorschriften zur Artenvielfalt eine noch stärkere Reduzierung der Schiphol-Kapazität vorschreiben könnten. Es ist jedoch unklar, ob der neue rechtsextreme Minister die Notwendigkeit einer Kapazitätsreduzierung überhaupt anerkennen wird.